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Leseprobe

Vom Bahnsteig wurden wir schließlich auf den Vorplatz des Bahnhofs hinausgedrängt und ich erfasste das ganze Ausmaß dieser Veranstaltung: Frauen, soweit das Auge reichte! Es wimmelte von ihnen. Inmitten der tausenden Leiber standen leere Busse und einzelne Autos, die stecken geblieben waren. Am Straßenrand brannten offene Feuer, auf denen in tönernen Gefäßen etwas brodelte. Sie bereiteten den Pudding direkt auf der Straße zu! Er wurde sofort als Opfer dargebracht, indem er unter den Umher-stehenden verteilt wurde. Mehrmals steckten mir wildfremde Inderinnen, mit einem offenen Lächeln, ihre Finger oder einen kleinen Löffel in den Mund, an dem dieser Brei klebte. Er schmeckte gut: süß und würzig nach Kardamom und Nüssen. Ich lächelte zurück und verneigte mich zum Dank und schon kam die nächste Hand. Selbst Kühe, die in diesem Gedränge unbeirrt herumliefen, bekamen den Brei zwischen die wulstigen Lippen gedrückt. Ich hatte gerade ein überzeugendes ernährungswissen-schaftliches Buch über den richtigen Umgang mit unserer Darmflora gelesen. The Diet Myth legte es einem nahe, möglichst viele orale Erfahrungen mit anderen Menschen und fremden Bakterien zuzulassen, um die bakterielle Vielfalt im Darm zu erhalten. Die Menschheit hatte nur überlebt, weil sie alles geteilt hatte: die Suppe aus demselben Topf, den abgenagten Knochen, der in der Sippe herumgereicht wurde. Man hatte kreuz und quer geschlafen und sich kreuz und quer geliebt. Der Mensch hatte sich über Jahrtausende allerlei Bakterien ausgesetzt und dabei die stabile Darmflora erschaffen, die nun in der Neuzeit bedroht war. "Na denn....", dachte ich, als die nächste Hand mir ein Breikügelchen in den Mund steckte... "Aber wie in aller Welt kommen wir hier weg?"

Mein Mobiltelefon funktionierte noch, also rief ich im Dukes an und fragte, wie ich Saji finden sollte. Wahib sagte, sie wären wegen des Attukal Pongula zu zweit nach Trivandrum gefahren. Der junge Day-Manager Anil war mitgekommen. Den Ambas- sador hatten sie morgens sechs Kilometer vom Bahnhof entfernt stehen lassen, weil sie nicht weitergekommen waren. Sie waren auf Moped-Taxis umgestiegen und warteten am Bahnhof auf uns. Dort, wo die Motor Rikschas standen. Ich blickte mich auf dem Vorplatz um und entdeckte drei Rikschas, die schwer umkämpft waren. Und da sah ich auch schon Anil winken. Er hatte mich entdeckt und schien eine Rikscha für uns bereitzuhalten. Saji bahnte sich bereits einen Weg durch die Menge, um uns mit den Koffern zu helfen. Als er bei uns ankam, grinste er breit. Der Frauenauflauf schien ihm zu gefallen und wie viele Inder liebte er den Tumult großer Massen. Als ich mich zu meiner Mutter umdrehte, bemerkte ich, dass sie den gleichen berauschten Gesichtsausdruck hatte. Sie war im letzten Leben sicherlich eine Inderin gewesen. Als wir bei den schwer umkämpften Rikschas ankamen, sagte Anil, es wäre nicht ganz billig gewesen, aber eine von ihnen wäre für die nächsten Stunden unsere und wir sollten schleunigst einsteigen. Wir warfen den großen Koffer hinten auf die schmale Ablage, quetschten uns zu dritt auf die Rückbank und nahmen das restliche Gepäck auf den Schoß. Saji setzte sich zu mir auf die Knie, Anil hockte sich vorne zu dem Fahrer und schon holperten wir los. Wir waren insgesamt sechs Mann und nicht wenig Gepäck in einer Rikscha. Die Fahrt vom Bahnhof zum Ambassador am Stadtrand von Trivandrum dauerte fast so lange, wie die zweihundert Kilometer mit dem Zug von Cochin nach Trivandrum. Und die Züge in Indien sind nicht die schnellsten. Oft kann man neben ihnen herlaufen. Die meiste Zeit verbrachten wir in einem unglaublichen Stau, bei dem alle paar Minuten irgendeine kleine klebrige Hand von außerhalb versuchte, mir ein weiteres Breikügelchen in den Mund zu stecken und Auspuffabgase mich in einen dämmerigen Schlaf versetzten. Wir schafften es dennoch zu unseren Glühwürmchen ins Dukes und fielen am Abend glücklich und erschöpft in die Maharadscha-Betten. Am nächsten Tag, als uns die gewohnte Lethargie bei einem ruhigen Mittagessen mit Blick in den Dschungel wieder eingeholt hatte, kam Wahib mit der Kerala Times angelaufen und zeigte aufgeregt auf die Überschrift der Titelseite: Attukal Pongula breaks all records with 3,5 Million devotees gathering, in what is considered the largest gathering of women in a single place, on a single day for a particular ceremony in the world! Ich trug mir das Datum abends in mein Notizbuch ein, und schwor, an diesem Tag nie wieder mit Zug in Trivandrum anzukommen.

Leseprobe

Meine Mutter war am Tag zuvor alleine von Marburg aufgebrochen, war in Frankfurt in den Flieger gestiegen, hatte in Madrid umsteigen müssen und sollte gegen zehn Uhr morgens in Buenos Aires landen. Da sie kein Mobiltelefon besaß, das funktio-nierte, hoffte ich einfach, dass alles gut gegangen war. Ich war früh dran und sagte dem Fahrer, er solle draußen auf uns warten. Der Flug aus Madrid befand sich noch im Anflug, also machte ich einen Umweg über den Terminal, um dort einen Kaffee zu trinken. Der Flughafen war riesig und es herrschte das typische morgendliche, südamerikanische Chaos. Ich musste ein wenig anstehen und setzte mich mit meinem Kaffee an einen Tisch. Ich liebte es, dem Gewusel auf Flughäfen zuzuschauen: Ankommende, die von Freunden und Familie begrüßt wurden, Liebende, die sich voneinander verabschiedeten und Verspätete, die mit ihren Rollkoffern durch das Gewimmel rannten. Plötzlich hörte ich eine Durchsage zu dem Flug aus Madrid. Ich sah auf die Uhr. Meine Mutter war vor fünfundzwanzig Minuten gelandet. Ich war spät dran. Ich rannte zurück zum Gate, aus dem die Passagiere strömten, und fragte mich mit klopfendem Herzen, was passieren würde, wenn ich sie nicht antraf. Der Strom der Reisenden ebbte eine Viertelstunde später ab und meine Mutter war nicht dabei gewesen. „Mist“, dachte ich, „Ich hätte pünktlicher sein müssen. Wie konnte ich die Abholung meiner dementen Mutter so aufs Spiel setzen?“ Sie hatte keine Ahnung, wo ich wohnte, konnte mich nicht kontaktieren und war weit und breit nicht zu sehen. Wenn sie dem Strom der Reisenden aus dem Flughafen gefolgt war, wie sollte ich sie jemals wiederfinden?

Ich entschied mich, sie ausrufen zu lassen und lief durch die Halle zum nächsten Counter, als ich sie plötzlich an einer Säule stehen sah. Sie wartete dort geduldig und schaute sich das Treiben an. Das Gepäck zu ihren Füßen und die Ruhe selbst. Mein Herz machte einen Freudensprung. Ich umarmte sie und entschuldigte mich, dass ich sie in dieser Ungewissheit hatte warten lassen. Aber sie zuckte bloß mit den Schultern und genoss den ersten Eindruck eines fremden Landes mit seinem Gewusel an Menschen und unbekannten Gesprächsfetzen. Ich selbst liebte diesen ersten Moment der Ankunft. Das Innehalten, wenn einem bewusst wird, dass alles, was man aufnimmt, neu ist. Nach einem Moment drehte sie sich zu mir um und fragte: „Steven, in welchem interessanten Land sind wir denn eigentlich? Ich kann mich nicht erinnern, jemals hier gewesen zu sein.“ Ich musste sie einfach noch einmal umarmen und sagte: „Argentinien, Mami. Und ich werde dir in den nächsten Tagen eine Stadt zeigen, die dir den Atem verschlägt. Komm, unser Fahrer wartet.“

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